Kommen sehen

Veröffentlicht 16/06/2012 von Miss Universe

Meistens sehe ich fast nichts von dem, was wir tun. Das ist ein wenig schade, denn wir sind mit Körpern gesegnet, die auch gängigen Schönheitsidealen entsprechen; und die wenigen Bilder, die der Pseudorebell mir in Spiegeln dankenswerterweise aufgenötigt hat, sind einfach wunderhübsch.

Aber während ich Sex habe, sind meine Augen meistens nach innen gedreht. Ich spüre, was mit mir geschieht, ich taste, rieche, höre vielleicht noch; die meiste Wahrnehmung läuft über Sinne, die ich im restlichen Leben weniger verwende als meine guten, verlässlichen Augen.

Durch Zufall habe ich gelernt, was für ein  beeindruckendes Schauspiel es ist, dem Pseudorebellen dabei zuzusehen, wie er kommt. Das geht, weil er das meistens erst zulässt, wenn ich schon völlig ermattet in den Kissen liege und langsam wieder zu mir komme, und weil ich mittlerweile weiß, dass es sich lohnt, dafür die Augen zu öffnen. Seither ist meine Lieblingsposition für diesen Moment direkt unter ihm, so dass ich im Closeup zuschauen kann.

Vorher drückt sein Gesicht ernsthafte Konzentration aus. Wie ein Mann bei ehrlicher, körperlicher Arbeit holt er das Beste aus uns heraus. Und dann kommt plötzlich dieser magische Moment, in dem er anfängt zu lächeln. Jedes Gesicht wird durch ein Lächeln geschmückt, aber völlig ohne seinen Verdienst ist es am Pseudorebellen besonders hübsch, weil seine so anmutig geschwungenen Lippen in diesem markigen Unterkiefer bei mir einfach alle Knöpfe auf einmal drücken. Jenes Lächeln strahlt euphorische ungetrübte Freude; ich kann in diesen kurzen Momenten den siebenjährigen Jungen sehen, vom Rausch der Geschwindigkeit begeistert im Gokart talwärts jubelnd.

Noch während mich zärtliche Rührung für so rein erlebtes und nach außen gekehrtes Glück ergreift, vollzieht sich eine instantane Wandlung: Der kleine Junge mutiert zum Leibhaftigen oder zumindest zu einem vom selbigen ergriffenen, heißblütigen großen Tier. Augen, Mund und Nüstern sind aufgerissen, der Blick auf erschreckende Weise gleichzeitig leer und von unausweichlicher Intensität. Ich bin sicher, er sieht nichts. Aus ihm quillt und dampft etwas ungeheuer Großes, unaufhaltsam, unkontrollierbar und nicht Teil seiner Selbst. Jemand hat mir das schiefe Bild von Zeus als Stier und Europa in den Kopf gesetzt; jetzt liege ich unter einem riesigen animalischen und doch mythischen Wesen, das komplett außer sich ist und von übermenschlichen Kräften geschüttelt wird. Er brüllt und zuckt. Die schiere Gewalt des Vorgangs ist beängstigend; und einen Menschen derart außer sich zu sehen, rührt immer an der existenziellen Furcht, der, den man kennt, könnte nicht zurückkommen.

Dann sieht er mich plötzlich an. Der Moment ist ganz still. Auf seinen Jochbeinen glitzern winzige Schweißperlen. Man kann jetzt sehen, dass er weder sieben noch unsterbliche siebzehn ist. Man kann sehen, dass er gelebt und gekämpft hat. Wo eben noch jegliche Verständigkeit bis zur vollkommenen Leere ausgeknipst schien, steht nun unerschütterliche Einsicht in seinen Augen. Ich habe keine Ahnung, ob und was er denkt, aber ich sehe einen weisen König, der eine schwere Entscheidung mit Weitsicht und Güte getroffen hat. Er sieht aus, wie jemand, der alles richtig gemacht hat und weiß, dass es gut ist; und das ist bestechend schön.

Der Pseudorebell wäre nicht der Pseudorebell, würde ihm nicht sofort einfallen, dass es immer noch etwas hinter dem Horizont gibt. In diesem Fall scheint es die Möglichkeit zu geben, dem Ganzen etwas nachzuspüren. Er schließt zum ersten Mal die Augen, bewegt sich millimeterweise in und an mir und dreht mir sein schönstes Halbprofil zu, mit leicht geöffneten Lippen. Für wenige Augenblicke kann ich Genuss sehen und hören, das Erleben von etwas, das so gut ist, dass es schon fast wieder weh tut und die Brauen in Hingabe verzerrt.

Dann nimmt er den nächsten Horizont in den Blick.